Partnerschaft, Partisanen und Traktoren - eine Reise in unsere belarussische Partnerstadt Stolin

75 Jahre Befreiung: Gedenken die grausame Zeit - Feier der Entwicklung und Partnerschaft

Der 3. Juli ist der belarussische Nationalfeiertag. Am 3. Juli 1944 wurde die belarussische Hauptstadt Minsk durch die Rote Armee von den Besatzern der Deutschen Wehrmacht befreit. Belarus gehört zu den Ländern, in denen Wehrmacht, SS und die anderen Schergen des Dritten Reichs am grausamsten gewütet haben.

Auch in Stolin wird der Tag mit einer großen Feier auf dem zentralen Lenin-Platz gefeiert. Es wird an die Leiden des Krieges erinnert, an die Partisanen, die Rote Armee - es wird aber auch die Entwicklung von Belarus gefeiert, es wird die Partnerschaft gefeiert. Und so war neben den anderen Partnerstädten Stolins auch eine Delegation aus Homberg zur Feier eingeladen.

Vereinsbus vor dem sowjetischen Ehrenmal in Berlin
Vereinsbus vor dem Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin

Der Partnerschaftsverein Homberg-Stolin e. V. organisiert nicht nur humanitäre Hilfstransporte und Kindererholungsaufenthalte. Wir gestalten die Partnerschaft zwischen den beiden Städten. Und so war unsere Delegation auch die offizielle Vertretung der Stadt Homberg (Efze) bei den Feierlichkeiten am 3. Juli 2019 in Stolin.

Die Reise in die ca. 1.500 km entfernte Partnerstadt begann am 28. Juni. An Bord unseres Vereinsbusses, der mit Spenden und privater Unterstützung speziell für den Transport von Kindergruppen beschafft wurde, war neben der Homberger Delegation eine Kindergruppe einer befreundeten Initiative aus Schwalmstadt, die nach einem mehrwöchigen Erholungsaufenthalt zurück nach Rudnia in Südosten von Belarus gebracht wurde. Nach einem kurzen Zwischenstopp bei der belarussischen Botschaft in Berlin ging die Reise quer durch Polen über den Grenzübergang bei Brest nach Stolin.

Seit 1992: Freundschaft und humanitäre Hilfe

Hotel 'Goryn' 1993Untergebracht waren wir auf Einladung des Kreises Stolin im Hotel 'Goryn'. Seit 1993 kommt der Partnerschaftsverein regelmäßig nach Stolin. Und wie die gesamte Stadt hat sich auch das Hotel in diesen Jahren massiv verändert.  Auch wenn der Stil der Zimmer anders ist, als wir es von unseren gestylten Hotels kennen, bietet das Hotel heute gute Zimmer mit ordentlichen Sanitäranlagen. 1993 war das ganz anders ...

Stolin liegt etwas abgelegen im Westen von Belarus nahe der ukrainischen Grenze in der sumpfigen Region Polsesien, einem der größten Sumpfgebiete Europas. Die Region ist landwirtschaftlich geprägt. Als Homberg 1992 auf der Suche nach einer Partnerstadt im sich öffnenden Osten Europs war, fiel die Wahl auf Stolin. Die Stadt hatte eine ähnliche Einwohnerzahl wie Homberg, die Stadt lag im Falloutgebiet der Atomkatastrophe von Chernobyl. Denn neben der Freundschaft war für Homberg die humanitäre Hilfe entscheidend für die Partnerschaft.

Hotel Goryn in Stolin
Hotel Goryn in Stolin

Hotel Goryn in Stolin
Blick aus dem Hotel auf die Sovjetskaya und die Schule Nr. 1

Belarus - Puffer zwischen der EU und Russland

25 Jahre Partnerschaft - LogoBelarus hat sich in den Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion zwiespältig entwickelt. 1991 erklärte das Land seine Unabhängigkeit. 1994 kam Aljaksandr Lukaschenka an die Macht, die er seitdem nicht mehr abgegeben hat. Aljaksandr Lukaschenka regiert Belarus autoritär, Wahlen sind nicht frei, Opposition und Pressefreiheit werden stark eingeschränkt.

Belarus ist stark abhängig von Russland, immer wieder gibt es Streit insbesondere um günstige Lieferungen von Öl und Gas, auf die das wirtschaftlich schwache Land angewiesen ist. Trotzdem widersetzt sich Lukaschenka einer von Putin geforderten engeren Union zwischen den beiden Staaten und versucht, als Puffer zwischen der Europäischen und Russland Vorteile für Belarus zu sichern.

Wirtschaftlich hat das an Rohstoffen - außer Kali - arme Land eine schwierige Position. Die Industrie ist weitgehend staatlich, die Fabriken gelten als veraltet. Belarus ist Partner der Eurasischen Union (Russland, Kasachstan, Belarus). Wirtschaftliche Partner sind neben den GUS-Staaten schwierige Staaten wie Venezuela, Iran und vor allem China, das versucht, Einfluss in Belarus zu gewinnen.

Das macht das Leben für die Menschen in Belarus nicht einfach. Das monatliche Durchnittseinkommen liegt bei ca. 500 €, was dazu führt, das z. B. eine Lehrerin von ihrem Gehalt allein nicht leben kann. Viele Menschen sind zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf mehrere Jobs und einen eigenen Garten zur Lebensmittelversorgung angewiesen. Insbesondere Waren, die importirt werden müssen, sind oftmals teurer als in Deutschland.

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Partisanenkult und Sowjetnostalgie

Unter Lukaschenka orientierte sich das Land in den 1990er Jahren zunächst stark am Mythos der Sowjetunion. Die nach der Unabhängigkeit eingeführte weiß-rot-weiße Nationalflagge wurde zugunsten der an die Flagge der Belarussischen Sowjetrepublik erinnernde rot-grüne Flagge ersetzt und gilt heute als Zeichen der Opposition, auch wenn sich das strenge Verbot dieser Flagge gelockert hat. Die Landwirtschaft ist weitgehend in großen Kolchosen organisiert, es gibt nur wenige private Konzerne. Auf der anderen Seite unterblieb in Belarus die Ausplünderung des Landes durch die aus Russland bekannten unfassbar reichen Oligarchen.

Parade zur Feier '75 Jahre Befreiung' am Nationalfeiertag 3. Juli 2019
Parade zur Feier '75 Jahre Befreiung' am Nationalfeiertag 3. Juli 2019

Eine wichtige Rolle im Volksmythos von Belarus spielen die Partisanen und ihre Rolle im Kampf gegen die faschistische Deutsche Wehrmacht, die Belarus von 1941 - 1944 besetzt hielt und verwüstete. Kein Land hat unter der Besetzung so gelitten wie Belarus, die jüdische Bevölkerung wurde nahezu komplett ermordet. Belarus hat während des 2. Weltkriegs ca. ein Viertel bis ein Drittel seiner Bevölkerung verloren, die Mehrheit gehörte zur jüdischen Bevölkerung.  209 Städte und 9200 Dörfer wurden zerstört (Sahm, Astrid. “Der Zweite Weltkrieg als Gründungsmythos: Wandel der Erinnerungskultur in Belarus.” Osteuropa, vol. 60, no. 5, 2010, pp. 43–54.). Auch in Stolin fand im September 1942 ein Massaker an der jüdischen Bevölkerung statt.

Ein vergessenes Mahnmal inmitten der Stadt - Die Weiße Synagoge

ehemaliges jüdisches Zentrum von StolinZu den Opfern des großen Krieges gehört die jüdische Bevölkerung von Belarus. Vor dem Krieg war die Region stark jüdisch geprägt, insbesondere in den Städten. Auch Stolin hatte eine jüdische Bevölkerungsmehrheit und eine lebendige jüdische Tradition. Am Ende hinterließen Wehrmacht, SS und ihre Helfer Ruinen und Massengräber.

Die Ruine der Synagoge steht mitten in der Stadt Stolin und erscheint doch wie ein vergessenes Niemandsland, eine Mahnung, um die sich kaum jemand kümmert. Dabei ist sie eines der wichtigsten verblieben Gebäude aus der lebendigen Epoche Stolins vor dem großen Morden. Wenige Gebäude des jüdischen Zentrum am Komsomolskaya Platz  sind geblieben, kein Ort der Erinnerung, kein Ort des Gedenkens. Stolin war eine jüdische Stadt, aber diese jüdische Geschichte bleibt nach wie vor eine Randnotiz.

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Die Erinnerung an den 2. Weltkrieg und die Befreiung durch Rote Armee und Partisanen gelten als identitätsstiftend in Belarus und dienen der Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins auch gegenüber Russland. So hat Lukashenka auch bewusst den 3. Juli als Nationalfeiertag durchgesetzt - den Tag der Befreiung von Minsk - und nicht z. B. den Tag der Unabhängigkeit des Landes, wie es die Opposition fordert.

Auch in den Darstellungen der Tanzgruppen bei den offiziellen Feierlichkeiten auf dem zentralen Platz an der Sovjetskaya (hier steht noch immer unangefochten die große Lenin-Statue) spielen die Besatzung und die anschließende Befreiung sowie der Stolz auf die Heimat Belarus eine zentrale Rolle.

Parade zur Feier '75 Jahre Befreiung' am Nationalfeiertag 3. Juli 2019
Ehrung der Opfer des Krieges durch die Vereinsvorsitzenden Joachim Jerosch und Wlademar Fahnenstiel (von rechts)

Gefeiert wurden aber auch die Entwicklung von Belarus und Stolin und die Partnerschaften und Freundschaften. Stolin hat Partnerschaften mit acht Städten, jeweils zwei aus Polen und der Ukraine sowie eine mit Russland, Moldavien, Lettland und natürlich mit Homberg (Efze) in Deutschland. Durch jährliche Aktivitäten wie den Hilfstransport und den Kindererholungsaufenthalt ist der Austausch zwischen Homberg und Stolin besonders eng.

Delegationen aus den Partnerstädten waren zur Feier eingeladen und waren Teil der Parade zum Lenin-Platz. Zum Gedenken an die Opfer des Krieges legten auch die beiden Vorsitzenden des Partnerschaftsvereins Joachim Jerosch und Waldemar Fahnenstiel ein Blumengebinde am Ehrenmal nieder. Schon am Vortag hatten wir die Grüße unseres Bürgermeisters Nico Ritz an den Vorsitzenden des Kreises Stolin Grigory Vasilevich Protosovitsky überbracht.

Stolin sammelt Freunde
'Stolin sammelt Freunde' - Turm auf dem Platz an der Leninskaya

Vodka und Milch

Stolin ist heute ein landwirtschaftlich geprägter Kreis mit fruchtbaren Böden. Es gibt etliche Kolchosen, die neben Getreideanbau  Milch- und Fleischwirtschaft betreiben. Die Kolchose in Mankovitchi betreibt zudem eine große Destillerie. Diese wirtschaftliche Entwicklung des Kreises wurde bei der Parade durch zahlreiche große landwirtschaftliche Fahrzeuge präsentiert. Neben den einheimischen Produkten 'Belarus' (z. B. Traktoren) wurden auch Mähdrescher und Erntefahrzeuge der Marke 'Palesse' gezeigt, die in Gomel hergestellt werden.

Stolin hat auch eine Molkerei. Auch diese hat sich von einer fragwürdigen Anlage mit verrosteten Rohren zu einem modernen, hygienischen Lebensmittelbetrieb gewandelt, der ständig erweitert wird und seit 2009 zu Savushkin Product, einem der wenigen belarussichen Konzerne in Privatbesitz (JSC - Joint Stock Company), gehört. Savushkin Product mit Sitz in Brest gehört zu den größten Molkereiprodukt- und Lebensmittelherstellern in Osteuropa. Verarbeitet wird die Milch aus den umliegenden Kolchosen in Stolin vorwiegend zu Käse, der zum großen Teil in den Export geht.

Molkerei in Stolin
Die Molkerei in Stolin gehört dem privaten Konzern Savushkin Product

Destillerie Mankovichi
Die Vodka Destillerie in Mankovichi

Park Mankovichi - ein Lieblingsplatz

Eingang zum Mankovichi-ParkPark Mankovichi, der verwildert vergessene Landschaftspark aus dem Jahr 1885 gehört zu meinen Lieblingsplätzen. Wer durch das Tor an der Sovjetskaya Straße hindurch geht, kehrt ein in eine andere Welt, in einen verwunschenen Garten, der in verwachsenen Spuren den einstigen Gestaltungswillen der Gärtner erkennen lässt, die mit Baumgruppen eine Landschaft gestalten wollten.

Im Park stand die Sommerresidenz der Radziwiłłs, deren Ruine in den 1950er Jahren endgültig verschwand. Eine Wiese, ein paar ausgewachsene Hainbuchen erinnern an den Platz des neo-barocken Bauwerks. Die Alleen zum Schloss sind geblieben, haben kein Ziel mehr. Ein toller Garten, immer wieder. Kein Besuch in Stolin ohne einen Bummel durch diesen Lieblingspark.

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Mankovichi Park | Stolin, Belarus
(eine externe Seite aus dem 'lost gardens' Projekt von Klaus Bölling)

Kindererholung 2019

Am 4. Juli ging es dann wieder zurück nach Homberg. Diesmal mit einer Kindergruppe aus Stolin an Bord. Während weltweit vermehrt junge Menschen Chernobyl als Ort für Adventure-Reisen missverstehen, ist Katastrophe von 1986 für die Menschen in Stolin weiterhin bittere REalität und die Belastung durch den radioaktiven Fallout allgegenwärtig. Daher hat der Partnerschaftsverein Homberg-Stolin e. V. in diesem Jahr bereits zum 21sten Mal Kinder aus Stolin nach Homberg eingeladen. 10 Jungen und 120 Mädchen aus sozial schwachen Familien können sich annähernd drei Wochen lang in Homberg erholen. Betreut werden sie von einem Team aus belarussischen und deutschen Betreuern.

Kindererholung
Kindererholungsaufenthalt 2019: Unsere Gäste aus Stolin


Eine Reise nach Stolin | Die Fotos

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Klaus BöllingIm Frühjahr 1993 war ich zum ersten Mal in unserer damals noch frischen Partnerstadt Stolin in Belarus. Eine aufregende Reise, der wilde Osten begann schon an der Grenze zu Polen bei Frankfurt (Oder). Und Stolin war eine graue Stadt, irgendwie so, wie wir uns damals die ehemals sowjetischen Städte vorgestellt hatten. Natürlich mit einem großen Lenin auf dem zentralen Platz. Aber die Menschen waren offen für die Begegnung, wurden Freund*innen.

Heute ist Stolin eine bunte, blühende Stadt - trotz der wirtschaftlichen und politischen Probleme in Belarus. Eine Stadt, in der viele junge Menschen leben, die in der gleichen gebückten Haltung auf ihr Handy starren wie in Homberg. Und Lenin steht noch immer auf dem zentralen Platz. Die Menschen freuen sich immer wieder über die Begegnung, sind Freund*innen geblieben, neue Freund*innen sind hinzugekommen.

Deshalb komme ich - deshalb kommen wir - immer wieder gerne in unsere Partnerstadt in Belarus und freuen uns über den Besuch unserer Freund*innen aus Stolin in Homberg.

Klaus Bölling


Lebendige Partnerschaft

 

Der Partnerschaftsverein Homberg-Stolin e.V. hält die Partnerschaft lebendig, unterstützt Stolin mit Hilfstransporten und ermöglicht in jedem Jahr Stoliner Kindern einen Erholungsaufenthalt in Homberg.

Das geht nur mit Ihrer Unterstützung. Bitte helfen Sie uns mit Ihrer Spende, damit wir diese Arbeit fortsetzen können. 

Partnerschaftsverein Homberg-Stolin e.V.
Joachim Jerosch
Wiesbadener Ring 12
34576 Homberg (Efze)
Tel.: 05681 5211 • jerosch@homberg-stolin.de

Spendenkonten:

  • Kreissparkasse Schwalm-Eder, IBAN: DE39 5205 2154 0081 0029 90
  • VR-Bank Schwalm-Eder e.G., IBAN: DE55 5206 2601 0000 0519 00

Wir gestalten die Partnerschaft mit Stolin in Belarus