Shtetl und Shoah| Stolins Vergangenheit ist jüdisch
Vor dem Einfall der deutschen Wehrmacht
hatte Stolin eine lebendige jüdische Gemeinde, die Juden stellten
die Bevölkerungsmehrheit. Heute müssen die Spuren jüdischen Lebens
mühsam gesucht werden.
Mitten in Stolin, nur wenige Schritte vom
Komsomolskaya Platz mit dem Kulturhaus entfernt, steht eine Ruine.
Gemauerte Außenwände, einige erhaltene Bögen im Inneren, ein paar
morsche Balken. Der Boden ist zugewachsen mit wildem Grünzeug,
manchmal scharren ein paar Hühner im Gras zwischen herumliegendem
Unrat. An den Brettern, mit denen ein Fenster verschlossen ist, ist
schwach ein Hakenkreuz zu erkennen. Sonst keine Schmierereien, kein
auffälliger Vandalismus. Zum Glück. In einer Seitengasse der
Pinskaya, der Straße nach Pinsk, befindet sich die Ruine der
Stoliner Synagoge, der White Stone Synagogue. Ein steinerner Bau in
einer Stadt der Holzhäuser. Einst ein bedeutendes Bauwerk, heute
eine ungeschützt dem Verfall preisgegebene Ruine, Zeugnis
schlimmster Geschichte.
Im 13.
und 14. Jahrhundert flüchteten viele Juden aus Westeuropa nach
Osten. Im Bereich Polen und Litauen waren sie sicherer vor
Verfolgung. Sie erhielten weit reichende Privilegien, die ihnen die
Ausübung ihrer Religion und Kultur ermöglichten. Diese
aschkenasischen Juden lebten abgeschieden von der ihnen feindlich
gesinnten christlichen Umwelt, hatten ihre eigene Kultur und Sprache
(jiddisch).
Polen-Litauen | Ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit
Im 16. Jahrhundert war Polen-Litauen das Zentrum
der jüdischen Gelehrsamkeit und strahlte zurück in die ehemaligen
Siedlungsgebiete in Westeuropa. Die jüdische Bevölkerung lebte zum
Teil mittelständisch. Juden waren Händler, kleine Geschäftsleute,
stellten die Verwalter großer polnischer Güter. Diese Zeit wird als
'Goldenes Zeitalter' bezeichnet.Das bürgerliche Leben war jüdisch,
die belarussische Bevölkerung lebte in den Dörfern und auf dem Land,
der Adel und die Gutsbesitzer waren polnisch-litauisch.
Im
Zuge der Kosakenaufstände 1648-49 unter Bogdan Chmelnizki kommt es
zu antisemitischen Pogromen, die arme Landbevölkerung wird gegen die
Händler und Gutsverwalter aufgehetzt. Die Folge ist eine soziale
Degradierung und Verarmung der jüdischen Gemeinden, die trotzdem
zahlenmäßig weiter anwachsen. Ein großer Teil der jüdischen
Bevölkerung gehört später einer ungebildeten, armen Schicht an.
Dies ist die Grundlage einer im 18. Jahrhundert aufkommenden
jüdischen Bewegung. Der Chassidismus beruht nicht mehr allein auf
strenger jüdischer Gelehrsamkeit, sondern trägt stark mythische,
ekstatische Elemente, die die ungebildete Bevölkerung wesentlich
besser erreichen, als die gelehrten Rabbis.
Das Goldene Zeitalter
Die Geschichte
der Stoliner Juden beginnt im 'Goldenen Zeitalter'. Die jüdische
Gemeinde in der Stadt wächst. Zwei Jahrhunderte später erlangt
Stolin für das jüdische Leben der gesamten Region zunehmende
Bedeutung. 1765 leben 408 Juden in der Stadt. 1792 wird schließlich
die weiße Synagoge aus Stein erbaut, deren Ruine heute an diese Geschichte erinnert.
In Stolin entstehen jüdische Geschäfte, Häuser werden gebaut.
1847 leben 777 Juden in Stolin. Stolin wird ein Zentrum der
chassidischen Bewegung (Karlin-Stoliner). Führende Rabbiner dieser
Bewegung leben und lehren in Stolin und wirken von hier aus auf die
Region. Diese Zeit ist der Höhepunkt der jüdischen Geschichte
Stolins. Die Spuren der Bedeutung Stolins für die chassidische
Bewegung finden sich auch heute noch und erhalten die Erinnerung
wach. Insbesondere in den USA finden sich jüdische Gemeinden, die
auf Rabbis der Karlin-Stoliner Bewegung zurückgehen.
Am Ende des 19. Jahrhunderts ist die Mehrheit der
Stoliner Bevölkerung jüdisch. Von den 3342 Bürgern waren 2489 Juden.
Zentrum des jüdischen Lebens ist um den Marktplatz herum, dort wo
heute nur noch wenige Zeugnisse des jüdischen Lebens erhalten sind.
Spurensuche in der virtuellen Welt
Die
Spurensuche nach den Stoliner Juden ist in der Stadt selbst nicht
sonderlich Erfolg versprechend. Hier gibt es nur noch die Ruinen der
damaligen Kultur. Weit ergiebiger ist die Suche in der virtuellen
Welt des Internet, das auch zu einem Raum der Erinnerung geworden
ist. Hier findet man die Menschen, deren Vorfahren aus Stolin
stammen, hier findet man die heutigen Karlin-Stoliner Gemeinden,
hier stößt man aber auch auf die Stoliner Kultur.
Zur
chassidischen Kultur gehörten starke ekstatische Elemente. Tanz und
Freude waren Teil des Gemeindelebens. Die Klezmermusik entstammt
dieser Kultur. Auch Stolin war ein kulturelles Zentrum mit
Klezmerbands. Ein Buch mit Klezmer aus Stolin fand seinen Weg nach
Amerika. Dort bekam es Musiker Yale Strom, der selbst Stoliner
Wurzeln hat. Und so findet sich heute auf seiner CD Stoliner Musik,
an die sich in Stolin fast niemand mehr erinnert.
1941 | Das Ende einer Kultur
1941 war es
mit dieser Kultur und dem Leben in Stolin schlagartig vorbei. Die
Rote Armee zieht sich vor den heranrückenden deutschen Truppen
zurück. Zunächst übernehmen ukrainische Kollaborateure die Stadt,
nationalistische Banden, die die Bevölkerung und vor allem die juden
terrorisieren. Am 22. August 1941 wird Stolin von der deutschen
Wehrmacht besetzt. Viele Menschen sind nach Stolin geflohen, 12.000
leben in der Stadt, 8.500 von ihnen sind Juden. Der jüdischen
Gemeinde wird ein Zwangsgeld von 1.000.000 Rubel auferlegt.
Die weiße Synagoge
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1942 | Die Ermordung der Stoliner Juden
1942 wird das Ghetto von Stolin eingerichtet, die Juden aus ihren
Wohnungen in den stacheldrahtumzäunten Bereich um den Marktplatz
getrieben. Sie dürfen kaum Habseligkeiten mitnehmen. Inzwischen
leben mit den jüdischen Flüchtlingen über 12.000 Juden in der Stadt,
unter erbärmlichen Bedingungen im Ghetto zusammengepfercht, in
ständiger Angst, unter ständiger Bedrohung durch SS und einheimische
Kollaborateure.
Sie haben keine Nahrungsmittel, hören immer
neue Nachrichten von Massenmorden in den anderen Städten. Das Ghetto
dürfen sie nur zur Arbeit unter Bewachung verlassen. Am 10.
September 1942 werden die Mitglieder des Judenrats ermordet, am
folgenden Tag beginnen die Deutschen und die ukrainischen
Kollaborateure mit der Ermordung der Juden. Sie werden auf dem
Marktplatz gesammelt und in Gruppen von ca. 500 Menschen in den Wald
getrieben, wo sie von den Deutschen ermordet werden. Der Ort der
Massenmorde ist eine große Grube im Wald oberhalb des Nachbardorf
Mankovichi. Dort wollte die Rote Armee einen unterirdischen Hangar
für einen Flughafen bauen. Die Baugrube wird zum Massengrab für die
Stoliner Juden. Der 11. September ist im Jahr 1942 Rosh HaShana, der
jüdische Neujahrstag.
Einer der wenigen Überlebenden, Michael
Nosanchuk, hat nach dem Krieg in einem Brief seine schrecklichen
Erlebnisse festgehalten. Ich habe den Text von seinem in Kanada
lebenden Sohn erhalten. Er hat mir auch einige weitere Fotos der
Synagoge und des Denkmals bei den Massengräbern zugesandt und mich
auf die 400jährige Geschichte der Juden in Stolin hingewiesen, von
der man in Stolin selbst wenig erfährt.
Michael Nonsanchuk hat einen ausführlichen, erschütternden
Bericht über die Zeit zwischen der sowjetischen Machtübernahme und
der Ermordung der Stoliner Juden 1942 durch die Nazis verfasst: A Memoir of Michael Nosanchuk
Es gab nur wenige
Überlebende, die den Weg zu Partisaneneinheiten in der Umgebung
fanden. Nach dem Krieg kehrten nur vereinzelt Juden nach Stolin
zurück, sie bekannten sich allerdings nicht offen zu ihrem Glauben.
1999 hat sich auch in Stolin eine neue, kleine jüdische Gemeinde
gegründet. Ziel dieser Gemeinde ist der Erhalt der Stoliner Synagoge
und die Pflege der Gedenkstätte in Stasino. Die Gründung der
Gemeinde erfolgte im Stoliner Kulturhaus unter Anwesenheit des
ersten Sekretärs der israelischen Botschaft und anderer Offizieller.
Damit wurde die neue Gemeinde auch ins öffentliche Bewusstsein der
Stadt gerückt.
Mühsame Suche | Spuren in Stolin
Trotzdem hat sich bis heute wenig geändert.
Vom Komsomolskaya Platz blickt man auf die Ruine in der Telman
Straße, die zwar vorhanden, aber doch entrückt ist, übersehen
bleibt. Man hat die Fensterhöhlen mit Brettern verschlossen, um
Vandalismus vorzubeugen. Leider bleibt so der Blick ins Innere
versperrt, der noch immer die Großartigkeit des Gebäudes erahnen
lässt, der den Betrachter aus der Zeit hebt, wenn man die tiefblauen
Reste der aufgemalten Vorhänge in den Fensterbögen und dahinter den
blauen Sommerhimmel sieht. Und man hat ein Schild angebracht, das an
die ehemalige Nutzung des Gebäudes erinnert. An seine Bedeutung
erinnert es nicht.
Von
den weiteren Bauwerken ist vor allem das Wohnhaus von Rabbi Perlov,
dem bedeutenden Vertreter einer chassidischen Rabbiner-Dynastie,
gleich gegenüber der Synagoge an der Pinskaya gelegen, erhalten. An
den ehemaligen jüdischen Friedhof ein Stück oberhalb des alten
Zentrums, gleich gegenüber der blauen Kirche, erinnert heute zun
kleiner Gedenkstein. Die alten Grabmale sind längst verschwunden,
sie fanden wohl Verwendung als Baumaterial.
Es gibt die Gedenkstätte Stasino, den Ort der
grausamen Morde an den Stoliner Juden. Auch dieser Ort wird
versteckt. Hinweisschilder gibt es nicht, er ist mühsam zu
erreichen, die Führung durch Einheimische ist sinnvoll.
Im kleinen Heimatmuseum der Stadt
gibt es zwischen vielen anderen Dokumenten auch ein Bild der
Synagoge vor der Zerstörung und einen alten Stadtplan. Doch nichts
erinnert an die jüdische Geschichte Stolins. Erinnert wird nur an
die siegreichen Partisanen, an die Leiden der Soldaten. Ihnen ist
auf dem Leninplatz eine Gedenkstätte gewidmet. Ein Gedenken an den
Holocaust gibt es in Stolin selbst nicht. Noch immer scheint es so,
als wolle der Ort mit diesem wichtigen Teil seiner Geschichte nichts
zu tun haben. Das ist schade, denn Stolins Vergangenheit ist
jüdisch.
Jüdischer Stadtplan
Ein Klick auf die Karte öffnet die übersetzte Version
Joshua S. Perlman und Adina Lipsitz haben eine
großartige Website erstellt, die die Erinnerung an Stolin vor der
Shoah lebendig macht. Es gibt viele Fotos und Augenzeugenberichte.
Eine Seite gegen das Vergessen, eine Seite, die zeigt, warum das
Internet wichtig und wertvoll ist.
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