Auf dem Land, das zum Meer gehört

Wer das Meer als Feind betrachtet, der hat den größten Teil der Welt gegen sich, weiß man auf den bewohnten Tupfern im nordfriesischen Meer.
17 Menschen betreut der Pfarrer, der alle drei Wochen auf die Hallig Gröde kommt. In der Halligschule sind sie zu dritt, einschließlich Lehrerin.

von BERND HANS MARTENS

Grün ist die See. Und manchmal, mittendrin, findet sich ein bewohnter Fleck, noldemäßig hingetupft. Aber viel zu flach, um eine Insel zu sein. Ein paar Häuser liegen wie trockengefallene Archen auf dem Erdhügel der Hallig, denn so heißen die Tupfer im nordfriesischen Wattenmeer. Erst die Ebbe legt die Hallig sachte und zweimal täglich auf den schlickschwarzen Meeresgrund zurück. Und dort kommt sie her. Ein flüchtiges Schwemmland gestern aus den Fluten gehoben, um irgendwann wieder im Brandungsschlag der See zu verschwinden.

Ein feuchter Garten Eden also, nur ohne Apfelbaum. Der alte Adam kommt schon, in Arbeitskleidung und Gummistiefeln. An seinem schleppenden Gang erkennt man, dass es hier nicht viel zu laufen gibt. Wozu auch, der Mensch lebt durch den Kopf. Moin!, sagt Adam und dann erst einmal gar nichts mehr. Lässt die Natur reden; die Weite, die Wolken, das Watt. Ein paar Austernfischer steigen mit ihren Jungen in die Luft, so langsam, dass man meint, die Schwerkraft zu spüren. Einsam ist hier nur, wer weit von sich selbst weg ist, beantwortet der Mann die zuerst gestellte Frage aller erstmaligen Halligbesucher. Schon ist man sich näher gekommen. Vielleicht aber auch, weil man weiß, hier vom Meer gefangen zu sein. Tjaawellkram!, sagt Adam auf Friesisch: Blödsinn! Wer das Meer als Feind betrachtet, der hat doch den größten Teil der Welt gegen sich!

Der Mann ist Pensionswirt und Halligbauer, beides im Nebenerwerb. Hält ein paar Schafe; Rinder nur nebenbei als Sommergäste vom Festland, Pensionsvieh genannt. Nun muss er weiter, will mal gucken, ganz nebenbei, was sonst noch angekommen ist. Strandgut vielleicht. Eine Kiste Apfelsinen hatten sie lange nicht, kommt eher selten, so wie ein Duckdalben oder der Rest vom Ruderhaus eines Krabbenkutters nach letzter Sturmzeit. Doch mit dem Hochwasser kommt die Flaschenpost, zweimal täglich landen jede Menge Plastikbuddels an, mit immer derselben Botschaft: Keine Rücknahme!

Und dort ganz hinten, was ist das? Da hat einer sein Boot an der Hallig festgemacht. Den Anker an Land vergraben, als wolle er das Eiland abschleppen. Ein Halligfreund, den will Adam besuchen. Der Mann kommt seit achtundzwanzig Jahren aus Glückstadt an der Niederelbe angeschippert, zuerst mit Frau und Kind. Später ohne Kind. Nun allein. Einmal Hallig, immer Hallig! Adam will nachfragen, ob etwas gebraucht wird. Trinkwasser vielleicht oder das gesprochene Wort. Beides hat einen hohen Wert hier auf der Hallig Gröde.

In einer guten Stunde ist die Hallig zu umrunden. Im Halbbogen laufe ich um die Warft, immer ein wenig näher an die Friesenhäuser heran. Ein Trecker steht auf der Erdhügelschräge, Wäsche flattert an der Leine. Niemand ist zu sehen. Auf der Kirchwarft nebenan ist man ohne Aufforderung willkommen. Die Namen der Bewohner erfahre ich von den Grabsteinen des Friedhofes: Mommensen, Petersen, Rickertsen, Schwennesen. Die Familien leben seit Jahrhunderten auf Hallig Gröde. Ein Friesenhaus beherbergt Schulraum und Kirche. Ich trete durch die eiserne Schutztür ein und stehe im Gottes-Pesel - in seiner besten friesischen Stube. Von der Kirchenbank blicke ich die Warftböschung hinunter. Die See ist näher als der Himmel. Wenn der Wind aufbriest, zum Sturm gerät, die dunkle Flut anfacht, die das Halligland zum Meeresboden werden lässt, und gischthelle Brandung gegen die Warftschräge wirft, dann ist es wahr, was in dem Altarbalken eingekerbt steht: "Die Steine werden schreyn und die Balken am Gesperr werden ihnen antworten."

Nun geht es auf die benachbarte Knudts-Warft. Sie ist mit gut vier Meter über dem mittleren Hochwasser gelegen die höchste Stelle auf der Hallig. "Moin!", sagt eine junge Frau, sie hat gerade ihren Kiosk geöffnet. Schaut nach Wattwanderern aus, die Gezeit ist danach. Liver düd as slav, steht auf einem verblichenen Aufkleber am Kiosk. "Lieber tot als Sklave - kein Nationalpark im Wattenmeer!" Die Halligfrau will nicht in einem Park leben. In dem man nur noch auf vorgeschriebenen Wegen laufen darf. Wo sie denn hinsollen, wenn nicht ins Watt, fragt sie. Und wer wird sich wohl für den Erhalt der Wasserlandschaft einsetzen, wenn er es gar nicht erst kennen lernen kann? Fragen, die auch Antworten sind.

Die Halligkinder vermissen nichts. Im Gegenteil: Eine Hallig - ein Spielplatz! Wahrscheinlich der größte im ganzen Land. Nur manchmal, sagt der zehnjährige Tade, wünscht er sich noch mehr Spielkameraden. Oder möchte öfter mal nach Husum ins Kaufhaus gehen, zum Rolltreppenfahren. Die Drängelei vermisst er jedenfalls nicht; in der Halligschule sind sie zu dritt, einschließlich Lehrerin.

Von der Knudts-Warft sieht man noch weitere Archen auf dem Meer der Halligen. Eine in Kiellinie ankernde Flotte, so liegt die benachbarte Hallig Langeneß da. Oder Hallig Habel, gerade breit genug für eine Warft mit einem Häuschen darauf. Das ist alles, was von dem noch vor hundert Jahren sechsmal so großen Eiland nachgeblieben ist. Noch heute kann man mit dem bisschen Glück des Entdeckers Hausrat und Werkzeuge von den durch Sturmfluten zerrissenen Gebäuden im nordfriesischen Wattenmeer finden. Erst als abzusehen war, dass das Ende der Halligwelt bevorstand, begann man die Halligränder mit Steinschüttungen zu sichern. Elf von einstmals über hundert Halligen sind so erhalten geblieben.

Langsam wandelt sich die Gegend. Dort, wo gerade noch gilbgrünes Wasser war, durchlöchern nun erste Wattrücken das Meer. Die See wirft Falten, so sieht es aus. Und bleibt bald ganz weg.

Alle sechs Stunden kentert die Strömung. Das Wattenmeer fließt durch kilometerbreite Öffnungen, den Seegaten oder auch Baljen genannt, zurück ins Gezeitental der Nordsee. Gewaltige Sand- und Schlickmassen werden dabei transportiert. Irgendwo wird immer etwas abgetragen, irgendwo anders angelandet. Ebbe und Flut sind die sichtbaren Kräfte eines außerirdischen Geschehens. Durch Mondkraft wird das Wattenmeer gestaltet, doch es ist ein lunares Meer. Und es ist eine amphibische Landschaft im Urzustand, immer neu und dabei uralt.

Es ist ein widerborstiges Land unterm Meer, weiß der alte Adam. Luke! Sieh mal! Mit dem letzten Wasser pumpen sich Quallen vorüber, schon aus der Form geraten, nähern sie sich ihrem Untergang durch Strandung in einem Meer, das schon nicht mehr da ist.

Hinsehen und staunen ist alles, was man da machen kann.

Nun sind die Wattwanderer auf der Knudts-Warft angekommen. Essen, Trinken, Karten schreiben. Und Moin-Sagen, nicht vergessen. Oder in den Fething spucken, in den alten Süßwasserteich, in dem das Regenwasser vom Warftboden zusammenläuft. Früher war es die einzige Trinkwasserquelle fürs Vieh, heute paddeln Enten darauf. Mehr Zeit bleibt den Wattwanderern nicht, wenn sie noch mit der selben Gezeit wieder zurück ins Festland laufen wollen. Sie müssen zeitig aufbrechen, bevor das Sechsstundenland erneut Meeresgrund geworden ist. Die anderen warten auf die Flut, um dann mit dem Fährschiff dort zu fahren, wo sie wenige Stunden vorher noch gelaufen sind. Inmitten eines der merkwürdigsten Meere dieser Welt.

Eine alte Halligbäuerin hat sich auf die Bank vor dem Kiosk gesetzt. Bis auf zwei Festlandsjahre als Magd hat sie die Hallig Gröde nie verlassen. Die alten Halligtage, erinnert sie sich, das war: mit der Sense Andelgras mähen und dann das kurzhalmige Heu in Laken sammeln, bevor es der Wind in die Gräben verwehte. Das Vieh war die einzige Erwerbsquelle, sonst war von dem Salzwiesenland nichts zu holen. Das war Verbuttern von Rohmilch im Handbetrieb mit der Butterschwinge. Und das war an der Sonne getrockneter Kuhmist. Mit den Füßen wurde er festgestampft, zu spatenblattgroßen Ditten gestochen. Ist es doch der einzige Brennstoff auf der Hallig gewesen, abgesehen von Treibholzstrandungen, den unverhofften Geschenken der See. Und es war Sammeln des Regenwassers von den Reetdächern der Friesenhäuser im Sood, der Süßwasserquelle für die Menschen.Gewiss, sagt die Halligbäuerin, es war ein beschwerliches Leben. Doch die neue Halligzeit begann für sie mit der Versorgung durch frisches sprudelndes Wasser aus der tief unter dem Sechsstundenland verlegten Rohrleitungsverbindung vom Festland. Mit einem Handgriff war die ewige Wassernot gebannt. Und unter demselben Sand wurde das Stromkabel zur Hallig verlegt. Das Leben im Schatten war ein für alle Mal vorbei, sagt die alte Frau. Doch in neuem Licht betrachtet, sah manches, was vom Festland auf die Hallig kam, recht fahl aus.

Auf Festland will die Halligbäuerin nicht mehr. Wozu auch, Lebensmittel landet der Halligschiffer an. Die Post bringt und holt der Postschiffer. Der Pastor erscheint alle drei Wochen von der Nachbarhallig Oland. Er bleibt bis zum nächsten Tag bei der siebzehnköpfigen Warftgemeinde.

Jetzt im Juli blüht die Salzwiese auf dem Halligland. Rubinrot der Halligflieder, daneben die Strandmelbe sieht aus wie ihr eigener, gewachsener Schatten. Doch wo man auch ist, auf der Hallig hat man immer das Meer vor Augen. Und bei Ebbe schon die Flut im Sinn, sagt Adam. Die kommt nun langsam, hat Zeit, die Gezeit. Dann aber, in der dritten Stunde, drängt das auflaufende Wasser in den Halligpriel. Es ist ein breiter, durchs Salzwiesenland mäandernder Graben. Nach dem Land-unter, und das passiert auf Gröde bis zu fünfzig Mal im Jahr, wird durch den Halligpriel das Land entwässert. Und mit jedem Land-unter bringt die See allerfeinste Schwebeteilichen heran, die sich auf dem Halligland absetzen. So hilft auch das Meer, dass die Hallig nicht für immer untergeht.

In ihrer Winzigkeit bleibt hier die Welt beisammen.

Wie lange noch? Der Anstieg des Meeresspiegels durch den Treibhauseffekt, durch unseren alltäglichen Beitrag hervorgerufen, lässt die Halligleute um ihr Eiland bangen. Wenn man heute schon wissen will, wie die Geschichte morgen ausgehen wird, kann man es im Märchen vom Fischer und seiner Frau nachlesen. Wer nie genug kriegen kann, der hat, wie Ilsebill, am Ende gar nichts.

Nun kommt mir der Halligmann mit der Antwort auf die zweitwichtigste Frage fast aller Festlandsleute zuvor. Was passiert, wenn Schwerwetter über die Nordsee jagt? Dann ist Gröde tagelang nicht zu sehen, sagt er. Die See rupft die Halligwiese. Wellen rennen die Warftböschung hoch, Gischt fliegt übers Dach. Man muss kürzer treten und die Ebbe hergucken! Mehr bleibt nicht zu tun, wenn das Vieh sich auf der Warft versammelt hat, die eisernen Schotttüren verrammelt, die Fenster verriegelt sind. Dem Brüllen des Sturmes hat niemand etwas entgegenzusetzen. Manchmal, wenn die Böen für einen Moment innehalten, als könnten sie ihr Gebrüll selbst nicht mehr ertragen, dringt vom Stall her dumpfe Unruhe ins Haus. Ein Lebenszeichen in dem aufgebrachten Meer. Der alte Adam fürchtet sich nicht. Hinsetzen und Abwarten.

taz Nr. 6538 vom 1.9.2001, Seite 18, 381 Zeilen (TAZ-Bericht), BERND HANS MARTENS

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