Einsprache der Naturwissenschaften

Weltwoche, Zürich 15.06.2000

Grabungsleiter setzen auf interdisziplinäre Forschung und Diskussion, Aussenseiter auf unumstössliche Quellen. Sie glauben, die allein gültige Interpretation gefunden zu haben. Im Fall Rungholt zum Beispiel. Duerr verlässt sich auf die Mejer-Karte – die entstand aber 300 Jahre nach dem Untergang Rungholts und ist so ungenau, dass sogar zu ihrer Entstehungszeit existente Orte verzerrt kartiert sind. Dagegen setzt der Landesarchäologe Hans-Joachim Kühn auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse: Rungholt ging unter, weil die Siedlung über einem eiszeitlichen Urstromtal errichtet worden war. Zwischen den heutigen Inseln Pellworm und Nordstrand, die auf eiszeitlichen Hügeln stehen, hat sich ein starker Wattstrom seinen Weg gebahnt und dabei das bis zu zwanzig Meter dicke Sediment fortgeschwemmt. Daher findet Kühn die Vorstellung naiv, die Fundamente von Rungholt lägen noch im Wattboden. Die Kirche von Pellworm aus dem 13. Jahrhundert liegt inzwischen mehr als fünf Meter über dem heutigen Wattniveau. «Die Häuser und besonders die Kirche von Rungholt werden auf vergleichbarem Niveau errichtet worden sein – ihre Fundamente sind daher längst abgetragen.» Die in den zwanziger und dreissiger Jahren unseres Jahrhunderts südlich von Südfall geborgenen Schleusenbalken stammen, wie C-14-Analysen zeigen, eindeutig aus der Rungholtzeit des 12. bis 14. Jahrhunderts.

Trotz dieser leicht zugänglichen Erkenntnisse findet der Aussenseiter Duerr selbst in seriösen Medien wie der «Zeit» und dem «Spiegel» eine Plattform für seine Vorwürfe: Die Landes-archäologen seien untätig. Und wenn sie doch aktiv würden, suchten sie an den falschen Stellen (im Süden statt im Norden). Zudem würden sie Beweise ihrer Fehldeutung einfach verschwinden lassen. Persönlich getroffen bei diesem Fall hat den Landesarchäologen Kühn, wie bereitwillig die Medien der Inszenierung Duerrs gefolgt sind: der sensible Ethnologe gegen die grosse, verkalkte Behörde. «David gegen Goliath – die Rollen waren sofort festgeschrieben», klagt Kühn.

Niemand hat sich bis heute getraut, «David» wegen seiner nicht erlaubten Grabung im Grabungsschutzgebiet zu belangen. Denn wenn David gegen Goliath kämpft – auf wessen Seite stehen dann Sympathie und Recht? Dieses arche-typische Konfliktmuster hat C.W. Ceram in seinem Archäologieroman «Götter, Gräber und Gelehrte» mehrfach eingesetzt. «Das Misstrauen der &Mac220;Fachleute&Mac221; gegen den erfolgreichen&Mac220;Out-sider&Mac221; ist das ungerechte Misstrauen des Bürgers gegen das Genie», urteilt Ceram. Doch für individuelle Genialität ist in der heutigen Archäologie nicht mehr viel Platz: An ihre Stelle sind Interdisziplinarität und Kooperation getreten. Bis zu einhundert Wissenschaftler – von Architekten über Bauingenieure und Geologen bis hin zu Archäobiologen und -zoologen – arbeiten beispielsweise gemeinsam an der Grossforschungsstelle Troja.

Nur in den Medien geniessen Aussenseiter noch hohes Ansehen: Die Öffentlichkeit benötigt anscheinend personifizierte Wissenschaft – einzel-gängerische Helden, die gegen das wissenschaftliche Establishment aufbegehren. Was die Archäologen betrifft, so erkennen sie allmählich, dass sie den öffentlichen Diskurs weder bekämpfen noch ihn verächtlich ignorieren können. So nimmt die kürzlich gegründete «Gesellschaft für naturwissenschaftliche Archäologie» die Herausforderung «Aussenseiter gegen Grabungsleiter» an. Anfang nächsten Jahres soll auf einem Forum in Stuttgart mit Aussenseiter Eberhard Zangger über seine so oft gepriesene Troja-gleich-Atlantis-Theorie öffentlich debattiert werden. Arbeitstitel: «Lebensraum Troja».

Freilich: Aussenseiter ist nicht gleich Aussenseiter. Die Erforschung der Vergangenheit benötigt Amateure. Denn ohne die ehrenamtlichen Helfer und Hobbyarchäologen wäre die Denkmalpflege in der heute betriebenen inten-siven Weise nicht realisierbar. So wurde auch Rungholt von einem Aussenseiter entdeckt, einem Aussenseiter ohne Sensationsgier und mit Verantwortungsbewusstsein: Der Marschbauer Andreas Busch stiess am 16. Mai 1921 südwestlich der Hallig Südfall auf Holzbohlen, die aus dem Wattboden ragten. Busch ahnte sogleich, was diese Spuren zu bedeuten hatten. Er erging sich jedoch nicht in Spekulationen und Eitelkeiten, sondern erwarb sich – in seiner knappen Freizeit im Selbststudium – kartografische und archäologische Kenntnisse und untersuchte fast vierzig Jahre lang das Watt. Er rekonstruierte die Spuren einer geschlossenen Deichlinie südlich von Südfall, fand Keramikscherben, Bronzetöpfe und Waffen und identifizierte 29 Siedlungshügel. In rund 130 Aufsätzen veröffentlichte er Schlussfolgerungen über seine Funde, die auch in der Fachwelt anerkannt wurden. 1956 notierte er schlicht: «Es ist nichts mehr im Watt zu sehen.»
Das Meer hatte die Reste von Rungholt wieder geschluckt. Ein Aussenseiter der normalen Art hätte diesen realen Verlust mit fantastischen Ausschmückungen kompensiert. Nicht so Busch. Er war bereit, Enttäuschungen zu akzeptieren.


Wolfgang Korn
ist Wissenschaftsjournalist in Hannover