Die Nordstrander Köge

Auch nach der verheerenden Flut von 1362, in deren Folge das Zentrum der Uthlande, der Strand mit der florierenden Hafenstadt Rungholt, unterging, suchten immer wieder Sturmfluten die nordfriesischen Uthlande heim. Einst waren die Uthlande ein große, vor den Geestrücken gelegene Moorfläche, die aus einer von weiten Wäldern bedeckten Landschaft hervorgegangen war. Die Moorfläche war durchzogen von kleinen Wasserläufen. Im Zuge der Besiedlung wurde das Moor zur Urbarmachung des Bodens, zur Gewinnung von Salz und als Brennmaterial abgebaut. Zunehmend wurde das Land entwässert und senkte sich ab - eine wichtige Voraussetzung für die Katastrophe von 1362. Die Landflächen mussten bedeicht werden, die Ströme gruben sich immer tiefer durch das ehemalige Moorland. Aus den Uthlanden war nach der ersten 'groten Mandränke' eine Landschaft aus Inseln und Halligen geworden. Gleichzeitig versuchten die Menschen, verlorenes Land neu zu bedeichen. Dies gelang vor allem dort, wo die Flut Sedimente ablagern konnte und der Boden erneut anwuchs. Doch konnten auch im Bereich Alt-Nordstrands - die Insel wurde erst nach ihrem Untergang 1634 so benannt - neue Köge bedeicht werden.

Alt-Nordstrand umfasste die Flächen des heutigen Nordstrand und der Insel Pellworm und reichte hinauf über das 'Wüste Moor', eine der wenigen noch vorhandenen Hochmoorflächen im Bereich der heutigen Hallig Nordstrandischmoor. Allerdings bestand schon damals eine breite Bucht zwischen dem heutigen Nordstrand und der Pellwormharde, der Rungholtbucht mit der Hallig Südfall. Die Bedeichung dieser Bucht wurde geplant, die Pläne konnten jedoch nicht umgesetzt werden, wären wohl auch zum Scheitern verurteilt gewesen, da sich Norderhever hier schon ein breites Bett gegraben hatte.

Insbesondere zu Beginn des 17. Jahrhunderts zerstörten etliche Sturmfluten die Deiche der Insel, viele Bewohner steckten den Spaten in den Deich und zeigten damit an, dass sie ihrer Pflicht zur Deicherhaltung nicht mehr nachkommen konnten und auswanderten. Sie hatten Hab und Gut verloren und konnten sich die notwendigen Deichreparaturen nicht mehr leisten. In der Nacht vom 11. zum 12. Oktober 1634 ereignete sich die seit 1362 schlimmste Flut, eine zweite 'grote Mandränke' und zerstörte die Insel Alt-Nordstrand endgültig. Der einzig nicht überflutete Teil war das 'Wüste Moor' im Kern der Insel, einige Überlebende konnten sich hierhin retten. Die Chroniken verzeichnen 6123 Tote, 1339 vollkommen zerstörte Häuser und 50.000 Stück ertrunkenes Vieh. Von 22 Kirchen sind einzig die Alte- und die Neue Kirche auf Pellworm sowie die Odenbüller Kirche erhalten. 2633 Menschen hatten überlebt - viele von ihnen mussten die Reste der Insel trotz herzoglichem Verbot verlassen, sie konnten sich den Wiederaufbau nicht mehr leisten. Angesichts dieser Situation war an eine Wiederbedeichung der verlorenen Flächen nicht mehr zu denken, die Insel Alt-Nordstrand war untergegangen. Zwischen Pellworm - hier gelang mit Hilfe eines Holländers die Wiederbedeichung - und den verbliebenen Landflächen breitete sich das Watt aus, die Norderhever grub sich ihr Bett immer tiefer.

1652 fanden sich vier Holländer, die unter Zugestehung umfangreicher Vorteile durch den Herzog, als Hauptpartizipanten die Wiederbedeichung Nordstrands vornehmen wollten. Für die verbliebenen Nordstrander bedeutete dies die Enteignung, da die Partizipanten sämtliche Ländereien, Vorländer, Moore und sogar das Kirchenland übereignet bekamen. Sie erhielten umfangreiche Vorrechte und Freiheiten, selbst die Religionsfreiheit wurde ihnen zugestanden, drei von ihnen waren Katholiken, denen ansonsten die Ansiedlung im Herzogtum untersagt war. 1654, nach zwanzig Jahren ohne Deichschutz, beginnt die Geschichte der Rückgewinnung Nordstrands. Zwischen 1654 und 1656 wird der 'Friedrichs-Koog' eingedeicht - der heutige 'Alte Koog'. Die Nordstrander beteiligten sich an diesem Werk nur widerwillig, die rigide Enteignung machte sie zu Gegnern der Partizipanten, die zur Verwirklichung der Bedeichung Arbeitskräfte aus dem Brabant heranholten.

1657 wurde der zweite Koog eingedeicht, der heutige Osterkoog, damals der Herzogin zu Ehren 'Marie-Elisabeth-Koog' genannt. Auch hier mussten die Brabanter Deicharbeiter zum Teil vor Angriffen der Einheimischen geschützt werden. Die erfolgreichen Eindeichungen brachten neue Interessenten nach Nordstrand, die sich als Partizipanten zusammen mit den Hauptpartizipanten an weitere Deichunternehmungen begaben.

1663 wurde die Gewinnung eines dritten Kooges in Angriff genommen. Brabanter, holländische und französische Partizipanten deichten den Trindermarschkoog ein und teilten ihn auf. Die Unterhaltung des Deiches erfolgte entsprechend des Grundbesitzes, die Grundeigentümer erhielten eine entsprechend anteilige Deichstrecke zum Unterhalt. Obwohl sich nach der Bedeichung der Trindermarsch weitere Flächen zur Eindeichung anboten, zerstritten sich zunächst die Partizipanten, Besitz wechselte häufig, Erben meldeten Ansprüche an - aber Deiche wurden nicht gebaut. Erst 1691 begannen die Arbeiten am 'Neuen Osterkoog', heute 'Neuer Koog'. Zwischen Pellworm und den neuen Kögen ging das Land jedoch endgültig verloren, die hier verbliebenen halligartigen Landreste verschwanden bis auf die Fläche des ehemaligen 'Wilden Moores', wo Häuser und eine Kirche entstanden. Zwischen diesem Landrest und der Insel suchte sich allerdings ein weiterer Wattenstrom, die Holmer Fähre, seinen Weg.

Das neu gewonnene Land in den Kögen war äußerst fruchtbar, die Ernten überstiegen bei weitem den Nordstrander Verbrauch und ein reger Handel entwickelte sich - das Projekt Wiederbedeichung trug reiche Früchte. So reich, dass die Hauptpartizipanten zunächst kein Interesse an weiteren Baumaßnahmen zeigten. 1717 zerstörte eine Sturmflut den Deich des Osterkoogs, sie drang über die Mitteldeiche auch in die anderen Köge. Trotz sofort eingeleiteter Reparaturen, durchbrach im Februar 1718 eine Sturmflut den Deich erneut. Wieder begannen sofortige Erneuerungsarbeiten - ein Glück für die Insel, denn 1720 hielten die Deiche einer der bisher schlimmsten Fluten stand. 1739 wurde die Bedeichung des nordöstlich des 'Marie-Elisabeth- Koogs' gelegenen 'Christians-Koogs' vollendet. Die Maßnahme war wesentlich teurer als geplant, die Beteiligten Partizipanten waren hoch verschuldet. Schon 1751 wurde der Koog von einer verheerenden Sturmflut weitgehend zerstört und es gelang den Partizipanten nicht, die zur Wiederbedeichung notwendigen Mittel aufzubringen. 1756 trug eine weitere Sturmflut die Deichreste ab, aus dem Koog war wieder Vorland geworden.

In den Folgejahren veränderten sich die Verhältnisse. Viele der holländischen und brabanter Partizipanten konnten das Geld zur ständigen Reparatur der Deichen nicht mehr aufbringen, sie übergaben die Pflichten gegen Landanteile an ihre nordfriesischen Pächter, andere verkauften ihre Ländereien. So bekamen langsam die Nachfahren der Überlebenden der Katastrophe von 1634 wieder die Oberhand. Die Mehrzahl der Bewohner waren wieder Lutheraner und sprachen plattdeutsch statt flämisch.

1768 kam eine neuer Interessent auf die Insel. Graf Jean Henri Desmercieres hatte bereits bei Bredstedt zwei Köge erfolgreich bedeicht und dabei ein völlig neues, flaches Deichprofil entwickelt. Er kaufte die Flächen des ehemaligen 'Christians-Koogs' und deichte auf einer neuen Linie den 'Elisabeth-Sophien-Koog' ab. Im Gegensatz zu den vorherigen Landherren war er ein Idealist und verkaufte die neu entstandenen 15 Grundstücke zu günstigen Konditionen an Einheimische. Der Koog erhielt eine Sonderstellung - ist auch heute noch eine eigene Gemeinde - und andere Rechte als die übrigen Nordstrander Köge. Der 'Elisabeth-Sophien-Koog' war der zunächst letzte Koog des neuen Nordstrand. Es wurde ruhiger, auch in die ewige Folge schlimmer Sturmfluten trat zunächst eine Ruhephase.

Erst im Februar 1825 zerstörte eine Sturmflut - die höchst gemessene aller Fluten - die Nordstrander Deiche erneut. Der Trendermarschkoog und der Neue Koog waren vollkommen überflutet, der Alte- und der Oster-Koog teilweise, auch der Elisbeth-Sophien-Koog war überflutet, allerdings blieb hier der Deich unzerstört. Nach dieser Flut werden die veralteten Stakdeiche mit ihrem Pfahlbollwerk an der Seeseite durch Rasendeiche mit modernem, flachem Profil ersetzt. Nach dem Krieg von 1864 fielen die ehemals dänischen Herzogtümer an Preußen. Fast 100 Jahre nach Desmercieres erfolgte im März 1866 der erste Spatenstich für den Morsum-Koog, der bereits im Dezember des gleichen Jahres fertiggestellt wurde. Im Januar 1867 war auch der Hafen Süderhafen fertig. Mit der neuen preußischen Gemeindeordnung verloren die ehemals übermächtigen Partzipanten nicht nur ihre Rechte, auch der Küstenschutz wurde zur Staatsaufgabe erklärt, was die Grundbesitzer von den oftmals erdrückenden Kosten befreite.

In den Jahren nach 1871 wurden die Nordstrander Deiche durch eine Steindecke am Deichfuß weiter verstärkt und gesichert. Bereits 1866 war im Zuge der Arbeiten am Morsum-Koog ein Damm zwischen Nordstrand und der Pohnshallig gebaut worden. Hier erfolgte ein umfangreicher Landanwachs, Nordstrand und die Pohnshallig wuchsen durch ein großflächiges Vorland  zusammen. Pläne zur Eindeichung wurden gefasst, aufgrund des Weltkriegs aber zunächst verschoben. 1919 begannen dann die Bauarbeiten am neuen Koog, der nach zahlreichen Rückschlägen durch Inflation und Fluten erst 1925 fertiggestellt wurde. Die Zustände im Koog waren zunächst völlig unbefriedigend, die Pächter konnten die Pacht nicht bezahlen, anstelle fester Häuser hausten viele zunächst in Baracken. Erst später besserten sich auch aufgrund staatlicher Hilfen die Verhältnisse.

Seit 1906 bestand ein kleiner Damm zwischen Pohnshallig und dem Festland, der von Fußgängern benutzt werden konnte. Zwischen 1933 und 35 wurde der Damm ausgebaut, Nordstrand hatte nun eine Sturmflut sichere Straßenverbindung zum Festland. In der Folge kam es auch hier zur Bildung umfangreicher Neulandflächen, die Insel war wieder mit dem Festland verwachsen. 

Vollends verloren hat sie den Inselcharakter durch das letzte - hoch umstrittene - Deichprojekt, die Bedeichung der Nordstrander Bucht. Und ist trotzdem immer Insel geblieben

Quelle: Georg Quedens, Nordstrand, Breklumer Verlag 1977, 4. Auflage 1994

zurück
© by Klaus Bölling