Tea at Shelbournes - eine irische Erzählung

Er kommt direkt auf sie zu, sie kann ihn im Spiegel an der Wand sehen, umfasst sie von hinten, beugt seinen Kopf über ihre Schulter und drückt ihr einen Kuss auf den Hals, schiebt seinen Körper an der Lehne vorbei und lässt sich schwer auf den freien Sessel neben ihr fallen, atmet tief und erleichtert durch. Dann endlich sieht er ihr in die Augen und wird bleich. Er fängt an zu stammeln, redet auf sie ein, aber sie kann kein Wort seines Dubliner Slangs verstehen, sieht seinen ratlosen Blick, die grau-blauen Augen, die auf den Eingang gerichtet sind, wo die Portiers in altmodischen Uniformen mit den Mitteln moderner Kommunikation hantieren und neue Gäste begrüßen, um deren Gepäck sich schnell hilfsbereite Boys kümmern. Sie registriert erstaunt, dass die Tatsache der Existenz von Hotelboys, die sie eher Fernsehfilmen aus den 60er-Jahren zurechnet, sie weit mehr erstaunt als der Auftritt des jungen Mannes, der weiterhin redet und mit flackerndem Blick den Eingang im Auge behält, von wo er wahrscheinlich jeden Moment den Auftritt der Dame erwartet, die er mit seiner fulminanten Begrüßung eigentlich gemeint hat. Aber der Eingang bleibt leer, die Portiers stehen in ihren altmodischen Uniformen herum, halten ein kleines Schwätzchen, ältere Herren schauen mit gesetzten Damen an ihrer Seite in den Tearoom, suchen sich ein freies Plätzchen auf einem der Plüschsofas, die Serviererinnen eilen in langen schwarzen Röcken mit weißen Schürzen hin und her, holen die Gedecke aus einem Schrank, kommen mit dampfenden Kannen und Tabletts voll Scones an die Tische. Das Ausblieben der erwarteten Frau scheint ihn ebenfalls zu verwirren, sein Blick ist noch unsicherer, er sieht sie an, stockt kurz in seiner Rede, hebt die Hände und lässt sie auf die Tischplatte sinken. Vielleicht realisiert er, dass sie kaum eines seiner Worte verstanden hat, vielleicht weiß er auch einfach nicht mehr, was er zu ihr sagen soll. Oder ist es ihr Gesichtsausdruck, der ihn stumm macht? Sie versucht ein Lächeln, eigentlich genießt sie die groteske Situation, genießt die Verwirrung in seinen Augen und winkt eine der Frauen mit den langen Röcken und weißen Schürzen herbei, bestellt eine weitere Kanne Tee und ein Gedeck, wobei sie auf den jungen Mann zeigt und versucht, ihre Sätze in einem halbwegs akzeptablen Englisch zu formulieren. An seinem Grinsen kann sie erkennen, dass es ihr nur unvollständig gelingt.

Über St. Stephen’s Green hängt die Nachmittagssonne schon tiefer, färbt die Bäume etwas dunkler und satter. Der Himmel ist blau, der Himmel ist nahezu wolkenlos. Wahrscheinlich strömen die Menschen noch immer aus der Stadt heraus in den Park wie vorhin, als sie nahe dem Brunnen auf einer Bank saß und zugesehen hat, wie die Kids auf ihren Skates an den mit Einkaufstaschen bepackten oder die Aktentasche am Griff schwenkenden Passanten vorbeirasten, locker um einen Kinderwagen herummanöverierten und sich steil in die Kurve legten, um den Weg zum Ausgang des Parks nicht zu verpassen, den Weg zurück in die belebte Stadt. Eine ganze Weile saß sie dort auf der Bank, ließ sich die Sonne auf den Kopf scheinen, hielt die Augen geschlossen und döste vor sich hin. Männer die aus irgendwelchen Büros kamen, die Aktentasche ins Gras legten, das Jackett auszogen, es ordentlich gefaltet auf der Tasche ablegten und versuchten, sich so auf die Wiese zu setzen, dass die gut gebügelte Hose keinen grünen Fleck bekam. Frauen, die vielleicht in einer der Dubliner Banken arbeiteten, sich mit Freundinnen trafen und gemeinsam warteten, bis endlich der Bus kam, der sie zurück in ein kleines Dorf in den Wicklow Mountains oder an der nahen Küste bringen sollte. Oder auf einen der grünen Doppeldecker, der sie hinaus in eine Vorstadt mit langen Reihenhaus-Straßen, dürren Gärten und rostigen Autos vor der Tür transportierte.

Hier drin ist das weit weg, keine Spur von der Hektik der Stadt, dem Gedränge auf Grafton Street und den schrillen Schreien der Zigarettenverkäufer, die an den Straßenecken den Passanten den Weg versperren, ‘cigarets, cigarets’, mit heiserer Stimme die geschmuggelte Ware anbieten, immer vier, fünf von ihnen an einer Kreuzung, einem Fußgängerüberweg, die sich auch nicht von ein paar uniformierten Polizisten unterbrechen lassen. Sie greift sich ein kleines Sandwichbrot von der Platte, Cheddar und eine Scheibe Ei, sagt ihrem immer noch stummen Gast, er soll zugreifen und hebt die Tasse mit dem dampfenden, frischen Tee. Er schaut nochmal herüber zum Eingang, kann die erwartete Frau noch immer nicht entdecken und nimmt mit ruhigerem Blick die Tasse in die Hand, schnuppert mit geschlossenen Augen, trinkt einen kleinen Schluck. Sie schließt ebenfalls die Augen, spürt den warmen Dampf, der von der Tasse aufsteigt, nimmt den Geruch des Tees war, das Bergamottaroma, den herberen Duft des kräftigen Ceylons. Der Tee ist gut gemischt, nicht zu aufdringlich, sie mag die aromatisierten Sorten sonst nicht, aber hierher passt dieser Earl Grey, passt mit seiner Farbe und seinem Duft gut zu der langsam nach Westen wandernden Nachmittagssonne über St. Stephen’s Green. Hat er ihr seinen Namen genannt? Sie sieht zu ihm herüber, sagt ihren Namen, er hebt den Kopf, hat sie aber nicht verstanden, sie wiederholt ihren Namen, streckt ihm umständlich die Hand entgegen, die er mit warmen Fingern ergreift. Sein Name klingt irisch, sie hat Mühe ihn sich zu merken, spricht ihn zweimal wie zur Übung. Er korrigiert sie, schaut sie an, sein Blick ist ernst. Sie sieht ihm an, dass er nach Worten sucht, um ihr zu erklären, warum er sie verwechselt hat, auf wen er wartet. Aber es interessiert sie nicht, sie möchte keine Liebesgeschichte hören, keine Geschichte vom vergeblichen Warten auf eine Frau, die nicht kommen wird, keine Liebesgeschichte, die endet, wie sie alle enden. Er holt Luft, will beginnen, aber sie greift nur seine Hand, hebt den Blick und schüttelt leicht den Kopf. Danach trinken sie schweigend ihren Tee, die Stille ist angenehm, sehen sich zwischendurch an, reichen sich gegenseitig kleine Kuchenstückchen und füllen die Tassen wieder mit Tee auf. Sie möchte nicht reden, möchte nicht aufstehen, einfach hier sitzenbleiben in der tiefen Polsterung des Sessels, zusehen wie andere ihren Tee bestellen, wie die Silberkannen an die Tische gebracht werden.

Am freien Tisch nebenan hat ein älterer Mann Platz genommen, eine abgeschabte Aktentasche neben sich aufs Sofa gelegt und die rote Nase an deren Spitze sich ein Tröpfchen gesammelt hat in ein riesiges kariertes Taschentuch geschnäuzt, das er mühsam aus der Tasche seiner grauen Hose gepuhlt hat und dessen Farbe ihr höchst fragwürdig erscheint. Er schnieft ein weiteres Mal, faltet das Taschentuch sorgfältig zusammen, verstaut es wieder in der Hosentasche und bestellt bei der Bedienung, die geduldig neben seinem Tisch ausgeharrt hat, ein Guinness. Während er auf das Bier wartet, schaut er sich im Raum um, mustert die Menschen an den Tischen, bemerkt ihren Blick und nickt ihr zu. Scheinbar stört es ihn nicht, dass sie ihn beobachtet. Nachdem er sein Bier in einem einfachen großen Glas, das leicht beschlagen ist und der schwarzen Flüssigkeit ein samtiges Aussehen gibt, vor sich stehen hat, nickt er erneut, greift das Glas und nimmt einen großen Schluck, setzt das Glas ab, wischt sich den Schaum vom Mund und atmet zufrieden aus. Dann holt er wieder das Tuch aus der Tasche, schnäuzt sich umständlich und laut, hebt entschuldigend die Schultern, trinkt einen weiteren Schluck, wischt den Mund und fischt aus seiner Aktentasche eine Zeitung. Auf dem Titelbild ist eine Gruppe Menschen, sie erkennt nur den Mann mit dem Bart, der Gerry Adams sein könnte, die anderen sind ihr fremd. Die Schlagzeile kann sie leider auch nicht lesen, er schaut sie selbst gerade an, liest konzentriert mit gerunzelter Stirn, vergisst sogar den Tropfen, der sich wieder an der Nasenspitze gebildet hat, schüttelt den Kopf. Der Tropfen landet wahrscheinlich auf der Stirn von Adams, er wischt ihn sorgfältig beiseite und blättert weiter, bis er zu den Sportnachrichten kommt und sich überlegen kann, ob er das Geld für eine weiteres Guinness anlegt oder lieber spart um beim Buchmacher noch eine todsichere Wette für das morgige Rennen abzugeben. Sie hat in einen dieser Läden hineingeschaut, das schäbige Interieur, die Männer, die mit zerknitterten Zetteln an der um die gesamte gelb verfärbte Wand laufenden Ablage lehnten, die Kappen in den Nacken geschoben hatten und mit gebanntem Blick auf den Bildschirmen verfolgten, wie ihre Chancen auf den großen Gewinn dahin schwanden. Verärgert zerknüllten sie ihre Zettel, warfen sie auf den Boden und gingen zum Schalter um im nächsten Rennen den Verlust wieder auszugleichen. Irgendwo lief scheinbar immer eine Pferde- oder Hunderennen.

Die Kanne ist leer, sie schüttet den letzten Tropfen in ihre Tasse, teilt die letzten Scones mit ihrem Gegenüber, der es aufgegeben hat auf seine Freundin zu warten und nur noch ganz selten eher beiläufig zum Eingang schaut. Langsam leert sich der Lord Mayor Room des Shelbourne Hotels, die Gäste eilen zurück in die Stadt, erledigen letzte Einkäufe, bereiten sich auf den Abend vor oder gehen zurück in den Park um die Spätnachmittagssonne, die heute noch richtig sommerlich wärmt, zu genießen. Der Mann am Nebentisch hat die Zeitung gefaltet neben sein leeres Glas gelegt, zögernd wie in Zeitlupe sinkt sein kopf nach vorn, das Kinn schlägt auf die Brust, er schreckt hoch, sieht sich kurz um, lächelt, lehnt sich entspannt in seinem Sessel zurück und schließt die Augen. Vorsichtig und leise räumt die Serviererin sein Teegeschirr beiseite. Leicht bewegen sich seine Nasenflügel beim Ein- und Ausatmen.
Sie holt unter dem Tisch ihre Einkaufstasche hervor, hat am Vormittag die Stadt nach Läden abgeklappert, in denen es nicht nur den üblichen Touristenschrott, häßlich bedruckte Guinnessgläser und in Hongkong produzierte Accessoires mit den unvermeidlichen Shamrocks gab. In einer der kleinen Seitengassen, die vom Ormond Quay abgingen hat sie einen Plattenladen mit einer guten Auswahl irischer Folklore gefunden, aber leider nur wenig Ahnung gehabt, welche Gruppen außer den ganz bekannten überhaupt empfehlenswert waren. Einfach eine Scheibe von den Dubliners zu kaufen war ihr dann doch zu touristisch erschienen und sie hat eine CD von einer Frau genommen, deren Namen sie nicht aussprechen kann, die sie nicht kennt, die aber auf dem Cover wunderschön und etwas geheimnisvoll aussieht. Sie hat Lust sich in die Sonne zu setzen, die Musik zu hören, stellt sich die Stimme der Frau vor, möchte im warmen Gras liegen, die irische Musik im Ohr und den Mann neben sich, eine Umarmung spüren, Küsse, die diesmal ihr gelten und nicht der unbekannten, vergeblich erwarteten Frau. Er gefällt ihr, wie er neben ihr aus dem Tearoom heraus zurück in die Lobby des Hotels geht und dabei erzählt, dass auch er zum ersten Mal hier ist, obwohl er schon seit einiger Zeit in Dublin studiert, aber sicher wiederkommen und sich dabei an die Begegnung mit ihr erinnern wird. Unter den Säulen des Eingangs ist es warm, der Feierabendverkehr führt in mehreren Spuren am Hotel vorbei, die Luft riecht nach Abgasen, wie in jeder anderen Stadt auch. Trotzdem ist es anders, sie steht auf den Treppenstufen, sieht herüber zu den hohen Bäumen im Park und atmet tief ein. Er bleibt neben ihr stehen, sieht sie fragend an. Anstatt ihn wirklich in den Park zu schleifen hakt sie sich bei ihm ein und führt ihn zurück ins Getümmel der Grafton Street.

Gleich am Eingang der Straße steht ein junger Mann und liest einer Gruppe von Zuhörern, die sich um ihn versammelt haben, aus einem schmalen Band Gedichte vor. Sie bleiben stehen und hören ihm zu, stehen still wie die anderen Passanten, die mit leicht geneigtem Kopf lauschen. Sie hat Schwierigkeiten den Text zu verstehen, lauscht einfach den fließenden Worten, es ist fast wie ein Lied, der Mann trägt es mit sicherer Stimme und guter Betonung vor. Es geht um das Land, die Berge und Flüsse und natürlich um die Liebe, um ein Mädchen, genau weiß sie es nicht, aber sie weiß, dass es ein schönes Gedicht ist, wie ein Lied, welches man nicht so schnell vergisst. Der Dichter beendet seine Lesung, einige der Zuhörer bleiben weiterhin stehen, stellen ihm ein paar Fragen, kaufen eines der Hefte, die er vor sich liegen hat, lassen sich eine Widmung hineinschreiben und klopfen ihm aufmunternd auf die Schulter. Auch ihr Begleiter kauft eines der Hefte, lässt sich etwas hineinschreiben und reicht es ihr. Sie kann den gälischen Text nicht lesen und er möchte ihn nicht für sie ins Englische übersetzen, sagt, es sei speziell für sie und ein kleines Geheimnis, ein Dankeschön für die Teatime at Shelbournes, erklärt ihr, dass Irland sehr viele Dichter habe, sehr viele Lieder. Sie gehen weiter die Straße entlang, vorbei an Bewley’s Oriental Café, wo sie am Morgen zwischen den dunklen Holzwänden an einem wackligen Tisch gefrühstückt hat, warme mit einer Art Pudding gefüllte Gebäckstückchen und eine gelbe Dose mit Tee gekauft hat, von dem sie weiß, dass er zu Hause völlig anders schmeckt als hier, nicht mehr als eine Erinnerung ist. An der Bank ohne Fenster gehen sie vorbei zur Brücke über den Liffey, lehnen sich über das Geländer und sehen hinab ins trübe Wasser. Auf dem Grund zählt eine Uhr die verbleibenden Sekunden bis zur Jahrtausendwende, so als werde dann mit dem Schlag der Sekunde Null alles anders. Bei Tag sind die Leuchtziffern in der grünen Brühe des Liffey nicht zu erkennen, nur schemenhaft schimmert das Licht zu ihnen herauf. Der Automat am Geländer druckt dafür die exakte Sekundenzahl auf eine Postkarte. Sie zieht die Karte, die sie am Vormittag gekauft hat aus der Tasche, zeigt sie ihm. 105.800.436 waren es einen kurzen Augenblick lang bis zur Jahrtausendwende. 105.777.439 sind davon noch immer verblieben. Er lehnt neben ihr, hat die Hand auf ihre Schulter gelegt, hält sie sanft umfasst und schaut mit ihr hinab, wie fast unsichtbar die Zeit vergeht. Sie wendet sich zu ihm herüber, nimmt ihn fest in den Arm und gibt ihm einen Kuss. Ein paar Sekunden stehen sie engumschlungen auf der Brücke, achten nicht mehr auf die verfliegende Zeit und auf die vorbeieilenden Menschen.

Viel Zeit hat sie nicht mehr, sie muss den Bus erreichen, der sie zum Hafen bringt, zu ihrem Auto, muss die Fähre zurück nach Holyhead erreichen. Sie möchte, dass er mitkommt zum Hafen, möchte ihn noch einmal umarmen und küssen bevor sie das Auto besteigt, bevor sie auf das Schiff fährt, möchte beim Auslaufen aus dem Hafen an der Reling stehen, herabschauen auf die kleinen Menschen, die am Kai warten, möchte winken und seinen winkenden Arm sehen, wenn sie aus dem Hafen auslaufen, wenn das Land immer kleiner wird und langsam im Dunst verschwindet. Möchte an der Reling stehen, aus dem kleinen Heft ein Gedicht lesen, das sie nicht vollständig versteht und eine nette Irin finden, die ihr die Widmung übersetzen kann.
Eines Tages wird sie dann zurückkommen, auf der Brücke stehen und in den noch immer trüben Fluss schauen, nachsehen, wie viele Sekunden seitdem vergangen sind und wie viele noch verbleiben. Sie wird im Lord Mayor Room des Shelbourne Hotels sitzen, den dampfenden Tee in der silbernen Kanne und darauf warten, dass er kommt, seinen Kopf über ihre Schulter beugt und ihr einen Kuss auf den Hals gibt. Über St. Stephen’s Green versinkt langsam die Sonne, Männer hocken neben ihren Aktentaschen im Gras und die Frauen aus den Banken warten auf die Busse, die sie zurück in die Dörfer an der nahen Küste oder in den Wicklow Mountains bringen. Oder auf einen der grünen Doppeldecker. Sie wird bei einer der Serviererinnen eine weitere Kanne Tee bestellen und im Spiegel an der Wand beobachten, wie der Portier im Foyer die Schirmmütze vom Kopf nimmt und sich im Nacken kratzt, wie Ehepaare Arm in Arm in den Tearoom schlendern und an einem der freien Tische neben ihr Platz nehmen. Sie wird weiter in den Spiegel schauen und warten.

ENDE

© 1998 by Klaus Bölling, alle Rechte vorbehalten